Mit dieser vollständig verinnerlichten Haltung des Künstlers bei der Arbeit hat sich Holger Herrmann auf seine Weise von der abbildenden Möglichkeit weitestgehend gelöst und eine fast absurde Position geschaffen: Mit einer jedem Betrachter eingängigen Form hat er einen größtmöglichen Rahmen oder ein der Realität entlehntes Gerüst für eine so abstrakte wie spontane Herangehensweise an Linien, Flächen, Gesten sowie kontrollierte und autonome Farbverläufe gefunden. Zuweilen dringt der Künstler, der die Begrenzung als Impetus so offensichtlich braucht, im Arbeiten mit der Farbe über die Ränder der Leinwand, um diese in der Folge von ihrem starren Keilrahmen zu lösen und sie wie Tücher oder Papiere als Ganzes bis an die äußersten Ränder zu präsentieren. Im Verlauf der Fortentwicklung seiner Figur experimentiert Holger Herrmann mit einer Substanz aus Champagnerkreide, Leinöl und Terpentin, in die er im noch nassen Zustand seine Linien mit dem Graphit- oder Kreidestift einschreibt. Auf anderen Bildträgern führt er stark farbige, mit Öl und Acryl gemalte Flächen mit der linearen Struktur des Graphitstiftes zusammen, die einerseits die Figur konkretisieren, sich andererseits als graphische Elemente zu Binnenzeichnungen verselbstständigen und in ihrem Verlauf wie zufällig Flächen miteinander verbinden. In kleinformatigen Papierarbeiten antwortet die Figur auf beiläufig gefundene, bedruckte Seiten mit Schrift oder arabesken Bildmustern, die den Fond für die Zeichnungen bilden. Frei nach Novalis’ Heinrich von Ofterdingen scheint die gebückte Gestalt inmitten der Zeichnung ihre „blaue Blume“ gefunden zu haben und an dieser fragilen Nahtstelle die schöpferische Verbindung zwischen Bildgrund und Darstellung eingegangen zu sein.

Neben diesen singulären Werken entstehen ab etwa 1995 zweiteilige Arbeiten, die sich nicht minder mit der einmal gestellten Frage befassen. Das in den siebziger Jahren entwickelte Prinzip der Zusammenstellung von monochromen mit figurativen Werken findet in einer kleinen Serie erneut Anwendung. Sie zeigt die mit sparsamen Linien angedeutete Figur auf einem Bildgrund, der in neun streng geometrische Bildelemente gleicher Größe in den Farben Blau, Gelb, Rot und einem Grau- Ockerton gegliedert ist. Dieser wird als „Leerstelle“ im Gegenstück wiederholt und dient als Projektionsort, Ausgangs- oder Endpunkt - je nachdem, in welcher Reihenfolge die beiden Arbeiten vom Betrachter gelesen werden. Große Tafeln wie „19. August 1996“, „3. April 1997“ oder die übergroße zweiteilige Arbeit „She called me Daddy, I und II“ aus dem Jahre 1999 zeigen eine Steigerung des lyrischen Charakters dieser trotz ihrer Ausmaße feingliedrigen, leisen und konzentrierten Bilder, die die Frage evozieren, ob es sich um gezeichnete Bilder oder gemalte Zeichnungen handelt, so harmonisch ausponderiert ist das Verhältnis von Linie und monochromer Fläche.