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Der Natur auf der Spur: Holger Herrmann in seinem Atelier
Foto Milena Herrman

Der Maler der Stille

"Ich lasse die Farbe fließen", sagt Holger Herrmann über seinen künstlerischen Neuanfang. Das Werk des Frankfurter Malers ist jetzt in der Ausstellungshalle Schulstraße 1a zu erleben.
Von Christoph Schütte

Wohl dem, der einen Bleistift hat. Und nicht schon wieder überraschenden Besuch. Denn wie jetzt gerade eben vor unseren Augen der Himmel sich verdüstert, wie es zunächst sanft, unmerklich zögernd noch, von außen an die Scheibe klopft, bevor nun endlich doch der Regen seinen Perlenvorhang vor das große Fenster zieht, da gibt es für Holger Herrmann eigentlich nur eins: zur Feder, zum Pinsel oder vielleicht besser noch zur Radiernadel zu greifen, um "sofort eine erste schnelle Skizze", eine spontane Zeichnung aufs Papier, auf den Lithostein womöglich oder auf die Zinkplatte zu werfen.

Eine durchaus überraschende, eine bemerkenswerte Entwicklung ist das. Vor allem eingedenk eines wesentlich konzeptuellen Werks, wie es das Schaffen des Frankfurter Künstlers in den vergangenen Jahrzehnten charakterisiert; dessen stets seriell angelegte Werkgruppen - von den ganz frühen, noch während seines Studiums bei Johann Georg Geyger an der Städelschule entstandenen Abstraktionen über die beinahe realistisch zu nennenden Figuren und Porträts der siebziger Jahre bis zu den farbmalerischen Arbeiten, den Holzdrucken und Radierungen - von Anfang an von Dichotomien bestimmt und in vibrierender Spannung gehalten scheinen. Und der jetzt aus dem Fenster schaut, den Weg zu seinen aktuellen Bildern nachvollzieht, und sich scheinbar gleich schon wieder widerspricht.

"Die Natur", sagt der 1942 in Mainz geborene Herrmann, "das ist ja ganz irrsinnig. Und so was von großartig, damit kannst du als Künstler gar nicht konkurrieren. Da musst du als Maler eine konzeptuelle Gegenposition einnehmen." Parbleu! Allein, Natur und Landschaft und Konzept sind bei diesem Künstler, genau betrachtet, keine Gegensätze. Schon vor drei Jahren überraschte er mit einer Radierfolge wahrlich beglückender, zart intimer Landschaftsblicke, und im vergangenen November, bei der Präsentation seiner neuesten, "Ein entfesseltes B" überschriebenen Werkgruppe in seinem Atelier, verblüffte er gar mit floralen, fröhlich farbenfrohen Motiven in einer ebenso festen wie federleicht schwebenden, indes weitgehend klaren, identifizierbaren Form.

"Aber", so der Künstler, "ganz frei interpretiert." Und darauf kommt es an. Bild für Bild und Blatt für Blatt. Eine bezaubernde, ganz malerisch aufgefasste Serie, entstanden vor allem aus dem Verlangen, "noch einmal richtig in die Farbe einzusteigen". Ein Neuanfang also, noch einmal, wie so oft im Leben und im Werk von Holger Herrmann. Denn eigentlich hatte er das Malen in den vergangenen fünf Jahren beinahe aufgegeben. Die Zäsur kam durch eine Katastrophe: Ein großer Brand in seinem Atelier hatte sein malerisches Lebenswerk nahezu vollständig vernichtet. Seither hatte Herrmann sich vor allem auf die Grafik konzentriert, auf seine Holzdrucke etwa, vor allem aber auf seine Kaltnadelradierungen in teils gewaltigen Formaten, die Mal um Mal die Figur im Raum umkreisen, im Kern aber die Wahrnehmung des Werks seitens des Betrachters selbst zum Thema haben.

Jetzt aber, in den wesentlich monochromen Arbeiten, wie sie nun in einer mitreißenden Schau in der Frankfurter Ausstellungshalle Schulstraße 1a zu sehen sind, schließt sich offenbar ein weiterer Kreis. Denn "Rauschen", so der Titel der in Öl auf Leinwand oder Baumwolle ausgeführten Grisaille-Bilder, das sind nicht nur im Prozess und im Malakt selbst sich artikulierende Formulierungen, sind nicht allein Bilder, die sich erst im künstlerischen Tun manifestieren, sondern unter dem Einsatz von Pinsel, Besen und Pigmenten sich zugleich tendenziell auflösende Formen. Wenn man so will, ein Bild gewordenes Paradox. "Eine gestische Malerei", wie Herrmann sagt, "die sich selbst ordnet." Und: "Ich lasse die Farbe fließen." Die freie Organisation, hier scheint sie lyrisch Formprinzip geworden.

"Rauschen", das sind denn auch unerhörte Klänge, leere, vibrierend energiegeladene Räume, die auf unendliche, gänzlich unerforschte makrokosmische Strukturen ebenso zu verweisen scheinen wie auf kleinste, sich selbst genügende und nach unbekannten Gesetzen sich fügende Universen, wie sie sich in jedem Kiesel, jedem Regentropfen finden. Bilder aber auch vor allem, die sich darüber hinaus im präzise konturierten Kontext der Ausstellung als kraftvolles Echo der "Exerzitien" lesen lassen. Sie machen damit eine Entwicklung im Werk von Holger Herrmann transparent, wie man sie so deutlich bislang wohl kaum hat nachvollziehen können.

"Exerzitien" heißt jene Serie von Silberstiftzeichnungen in großem Format, zu der ihn nach dem verheerenden Brand der damalige Direktor des Museums Wiesbaden, Volker Rattemeyer, anregte, der einen Großteil der Blätter im Anschluss für das Haus erworben hat. Und auch die "Exerzitien" waren damit seinerzeit ein Neuanfang. Eine Meditation im Grunde vor dem Hintergrund der Frage, wie es nach der größten anzunehmenden Katastrophe für einen Künstler überhaupt noch weitergehen kann. Tag für Tag setzte Herrmann in der Folge Kreis um Kreis auf das mit Leim und Champagnerkreide grundierte Papier, grau in grau, mit größtmöglicher Regelmäßigkeit. Das ist auch schon beinahe alles.

Entstanden sind in der Folge elf monochrome Blätter mit berührend malerischem, den Betrachter zur reinen Anschauung und Kontemplation verführendem Charakter. "Das", sagt Herrmann, während ein paar letzte harte Tropfen rhythmisch an die Scheibe schlagen, "das war das große Aha-Erlebnis. Das konzeptuelle Arbeiten. Tag für Tag, Kreis für Kreis. Dieses Stillwerden." Und diese Stille, diese Konzentration kann man spüren vor den Blättern. Kein Zweifel, ohne diese "Exerzitien" wäre das große aktuelle "Rauschen" nicht entstanden. Allein, wie soll, wie kann es von hier aus weitergehen? "Jetzt", sagt Herrmann, "will ich kleiner werden. Und konzentrierter. Ich habe noch viel zu tun."

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F.A.Z., 16.05.2014, Kultur (Rhein-Main-Zeitung), Seite 34 - Ausgabe R-DA, R-WI, R-MK, R-HT, R-F